Lernprobleme und primitive Reflexe

19. Jan 2022Thomas Weidauer
Lernprobleme und primitive Reflexe

Was Probleme beim Lernen mit fehlender Reflexintegration zu tun hat

Lernstörungen sind eine Gruppe von diagnostizierten Schwierigkeiten, die mit dem Verständnis der gesprochenen Sprache (rezeptiv), dem Sprachausdruck (expressiv), dem Lesen, Schreiben sowie mathematischen Kalkulationen und Themen zu tun haben. Beispiele für Lernstörungen können auch sein, dass das betroffene Kind Schwierigkeiten hat, die Namen von Farben oder Buchstaben zu erlernen, oder es lernt nur langsam, diese zu zählen, zu schreiben oder zu lesen.

Zusätzlich können folgende Symptome auftreten:
eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und hohe Ablenkbarkeit (ähnlich wie bei ADHS und ADS)
Sprech-/Sprachprobleme
Probleme, gesprochene Informationen zu verstehen
ein kurzes Gedächtnis
feinmotorische Schwierigkeiten
schlechtes Schriftbild oder
Schwierigkeiten beim Abschreiben

Es gibt zahlreiche Studien zu den Ursachen von Lernstörungen und der Konsens ist, dass Probleme beim Lernen mit einer Fehlfunktion des zentralen Nervensystems in Verbindung stehen und bereits von Geburt an vorhanden sind. Das heißt, hängen nicht von sozialen, kulturellen oder pädagogischen Faktoren ab.

Das zentrale Nervensystem gilt als das Kontrollzentrum für Denken, Lernen und Bewegung, was bedeutet, dass die Fähigkeit, zu sprechen, zu spielen und alltägliche Fertigkeiten zu entwickeln, von der Reife dieses Systems abhängt. Diese Reife wiederum beginnt mit primitiven Bewegungen, die von Reflexen (also unwillkürlich) gesteuert werden, und geht dann in komplexere Hirnprozesse über. Wie man sich vorstellen kann, ist das Gehirn während dieser Reifungsphasen anfällig für Entwicklungsstörungen.

Was sind primitive Reflexe

Die primitiven (oder auch frühkindlichen) Reflexe werden bereits im Mutterleib gebildet und gelten als erste Form der Bewegung. Sie sind unwillkürlich, d.h. sie finden nicht bewusst, sondern quasi automatisch, statt und sind nicht nur vor, sondern auch einige Monate nach der Geburt die „Bewegungstreiber“ des Kindes. Sie unterstützen das Baby dabei, mit der neuen, von der Schwerkraft gesteuerten Umgebung klarzukommen und sich auszugleichen. Außerdem dienen die primitiven Reflexe als Hinweis auf die Entwicklung des Nervensystems, schließlich sind sie die Grundlage für eine gesunde Entwicklung des Gehirns. Sie werden über den Hirnstamm gesteuert und brauchen somit keine kortikale Aktivität seitens des sich noch entwickelnden Gehirns. Dennoch sind sie für das Überleben in und außerhalb des Uterus für ca. ein Jahr nach der Geburt wichtig.

Denn: Während sich das Gehirn nun postnatal Schritt für Schritt entwickelt, werden die primitiven Reflexe nicht mehr benötigt und müssen „verschwinden“, um das Gehirn in seiner neurologischen Entwicklung nicht zu behindern. Aber so leicht verschwinden sie nicht, deshalb ist dies auch das falsche Wort. Die nicht mehr benötigten Reflexe werden stattdessen integriert - aus dem Lateinischen „integrare“: in ein System aufnehmen, einordnen, aber auch erneuern, ergänzen - und zwar in neue, willkürliche (bewusste) Bewegungen. Diese Bewegungen wiederum sorgen für eine Fülle von neuronalen Nerzwerkmustern, die verschiedene Gehirnregionen miteinander verbinden und somit für späteres Lernen, Kommunikation, Beziehungen und Motivation sehr wichtig sind.

Und ohne Integration?

Findet diese Integration der primitiven Reflexe nicht bzw. unvollständig statt, kann das Nervensystem nicht richtig funktionieren, was häufig zu Schwierigkeiten mit der sensorischen Verarbeitung führt. Eine weitere Folge können ADS, ADHS, Autismus, Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensprobleme, Lernstörungen, Probleme mit den Sinnesorganen (Sehen, Hören) und emotionale Schwierigkeiten sein.

Zahlreiche Studien zeigen, dass z.B. Kinder mit Lernstörungen noch aktive Moro- und ATNR-/STNR-Reflexe aufwiesen (Gustafson, 1970). Außerdem konnten Studien einen Zusammenhang zwischen aktiven primitiven Reflexen und Dyslexie, Aufmerksamkeitsstörungen und ADHS erkennen (Goddard Blythe SA, 2002 und Taylor M, S Houghton, Chapman, 2004).

Was kann man tun

Der starke Zusammenhang zwischen primitiven Reflexen und Lernschwierigkeiten wird zwar häufig übersehen, ist glücklicherweise aber kein endgültiges Urteil. Die frühkindlichen Reflexe lassen sich auch im späteren Leben noch integrieren. In einer Studie von 2001 (Bein-Wierzbinski) konnte die Behandlung mit einem spezifischen Bewegungsprogramm für die Integration frühkindlicher Reflexe Verbesserungen der augenmotorischen Funktion und Lesefertigkeit nachweisen. Im Jahr 1997 zeigte eine Untersuchung (O´Dell and Cook), dass Übungen, die sich auf Gehbewegungen und somit die großen Beinmuskeln konzentrierten, halfen, Hyperaktivität zu stoppen. Es ist also möglich, die noch aktiven primitiven Reflexe weitestgehend zu integrieren, um neue Nervenbahnen und Netzwerkmuster zu stimulieren und so die schulischen Leistungen, Konzentration, Aufmerksamkeit und Behalten nachhaltig zu verbessern.

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