13. Jan 2022Thomas Weidauer
Wenn sich nichts ändert, ändert sich nichts
Zu Beginn der Erforschung des menschlichen Körpers dachten die Wissenschaftler, dass unser Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt fest veranlagt wäre. Festverdrahtet und unveränderlich, ohne Möglichkeit für Wachstum, Veränderung oder Korrektur. Glücklicherweise sind auch die Erkenntnisse der Vergangenheit nicht in Stein gemeißelt und wir dürfen immer dazulernen. Heute weiß man, dass unser Gehirn statt unveränderlich eben doch plastisch ist. Das bedeutet, dass unsere „Kommandozentrale“ im Oberstübchen veränderlich ist und mit der richtigen und wiederholten Stimulation die physische, chemische und elektrische Aktivität und Funktion variieren kann. Das ist es, was wir Neuroplastizität nennen. „Neuro“ bezieht sich auf Neuronen, die Nervenzellen des Gehirns und Nervensystems, und „Plastizität“ bezieht sich auf Formbarkeit.
Exkurs: Entwicklung
In der Zeit ab Geburt bis ca. drei Jahre erhöht sich die Anzahl der Synapsen im Gehirn von 2.500 auf 15.000 pro Neuron. Das sinkt die Anzahl langsam, aber stetig. Heranwachsende verfügen dann nur noch über die Hälfte der Verbindungen. Entschieden wird nach dem Prinzip „Use it oder lose it“, d.h. die Verbindungen, die weniger genutzt werden, verschwinden.
Konkret heißt das, unser Gehirn ist in der Lage, seine Struktur und Funktionen an den Input anzupassen, für den wir sorgen. Dieser Input kommt in Form von Emotionen, Erfahrungen, Gedanken, Verhaltensweisen und Gewohnheiten. Es bildet neue neuronale Verbindungen und lässt andere verkümmern.
Das ist natürlich abhängig von verschiedenen Faktoren:
- Fokus: Es ist wichtig, sich auf spezifische Fähigkeiten zu konzentrieren.
- Wiederholung: Das Gehirn benötigt wiederholte Stimulation.
- Intensität: Wichtig ist eine ausreichende Stimulation, um Veränderung zu rechtfertigen.
- Alter: Je jünger unser Gehirn ist, umso schneller kann es sich verändern. Dennoch sind Verbesserungen in jedem Alter möglich, mit zunehmendem Alter dauert es nur länger.
- Bedeutung: Veränderungen geschehen leichter, wenn die Stimulation Bedeutung, Relevanz oder Wichtigkeit für uns hat.
- Übertragung: Eine bestimmte Fähigkeit einzuüben, kann sich auf Verbesserungen in anderen Bereichen übertragen.
- Zeit: So wie die Wiederholung der Stimulation wichtig ist, zählt auch der Zeitraum, über den sie erfolgt. Veränderung ist kein Einzelereignis, sondern das Ergebnis wiederholter Anstrengung über einen längeren Zeitraum.
Es gibt immer ein Aber
So wunderbar sich Neuroplastizität auf den ersten Blick anhört…wo Licht ist, ist auch Schatten. Wie wir erfahren haben, können wir unser Gehirn stimulieren, um positive Veränderungen zu bewirken. Das ist das Licht. Der Schatten wiederum ist, dass wir unser Gehirn mit schädlichen Dingen „füttern“ können und damit negative Plastizität bewirken. Um diese Form der negativen Stimulation in einen Satz zu bringen: Allein (soziale Isolation) auf dem Sofa sitzen (Bewegungsmangel), stunden am Stück am Handy scrollen, während unbedeutende Streaming-Serien im TV laufen (emotionales und mentales Ausklinken) und die Nahrungsaufnahme aus brauner Brause und frittierten Kartoffelscheiben (Mangelernährung) besteht… Diese Erfahrungen und Verhaltensweisen prägen sich ebenfalls als Gewohnheiten in unser Gehirn ein.
Es ist also wichtig, sich bei Gehirnstimulation auf positive Neuroplastizität zu konzentrieren.
Wie es geht
Wollen wir unser Gehirn positiv verändern, sind stimulierende Aktivitäten wie soziale Interaktionen, ein gutes Buch, körperliche Bewegung und natürlich gesunde Nahrung (viel Wasser nicht vergessen!) am besten. Eine gute Darmgesundheit ist hierbei ebenso wichtig wie ein ausbalanciertes Nervensystem, das über eine gute Stressresilienz verfügt.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine Studie aus dem Jahr 2018 konnte zeigen, dass Gleichgewichtstraining in der Lage ist, die kortikale Dicke in den visuellen und vestibularen Regionen des Kortex zu steigern. Nur 12 Wochen Balancetraining bewirkten strukturelle Plastizität in Regionen, die zu höheren kognitiven Funktionen, wie Gedächtnis und räumliche Wahrnehmung, beitragen.
NeuroImage Volume 179, 1 October 2018, Pages 471-479; Exercise-induced neuroplasticity: Balance training increases cortical thickness in visual and vestibular cortical regions; Rogge, Röder, Zech, Höttinga; Universität Hamburg, Biological Psychology & Neuropsychology; Friedrich Schiller University, Human Movement Science