20. Mai 2022Thomas Weidauer
Kann ein neues „Modewort“ mehr Akzeptanz bewirken und ADHS aus der Klischee-Schublade herausholen?
Neurodiversität
Es gibt ein relativ neues Wort in unserem Sprachgebrauch:
Neurodiversität. Was bedeutet es? Neuro steht für Nerv bzw. das Nervensystem (zentrales Nervensystem: Gehirn und Rückenmark) betreffend, und divers steht für andersartig, verschieden. Es wird häufig für Menschen verwandt, die in ihrem Verhalten, ihrer Entwicklung und vielen Fähigkeiten, wie Emotionalität, Kognition, Impulsivität etc. von der Norm abweichen. Diese Norm würde man als
neurotypisch bezeichnen. Neurodiverse Menschen werden auch als
neurodivergent (abweichend) bezeichnet und gelten als von ADHS, ADS und Autismus Betroffene.
Und auch wenn ADHS ein noch immer zu wenig beachtetes und wachsendes Problem zu sein scheint, gibt es einige Fortschritte im Verständnis dieser Neurodiversität. Früher als „Jungskrankheit“ und „Kinderkrankheit“, die sich auswächst, betrachtet, ist es kaum eine Überraschung, dass es eine große Zahl an Erwachsenen, und besonders weiblichen Erwachsenen, gibt, die ein Leben lang mit vielen Problemen zu kämpfen haben. Und sehr oft fehlt eine oder eben die richtige Diagnose und es werden nur die Komorbiditäten behandelt. Als Komorbiditäten bezeichnet man Krankheiten, die im Zusammenhang mit dem ersten Störungsbild entstehen. Und das ist ein Riesenproblem.
Von zappelig zu rücksichtslos
Ist keine ADHS-Diagnose erfolgt, treten andere Syndrome ohne erkennbare Ursache auf und werden möglicherweise fehlerhaft diagnostiziert und behandelt. Eine Depression ist beispielsweise eine ADHS-Begleiterkrankungen, ebenso wie Substanzmissbrauch bzw. Sucht. Hier wäre eine so genannte Dualdiagnose erforderlich. Schließlich hat ADHS auch im Erwachsenenalter noch starke Auswirkungen auf das eigene Erleben, die soziale Kompetenz und die gesellschaftliche Akzeptanz. Denn ohne Diagnose kann das Stigma „impulsiv, zappelig, unkonzentriert“ im Kindesalter zum gesellschaftlich inakzeptablen „aggressiv, rücksichtslos, unzuverlässig, desorganisiert“ im Erwachsenenalter werden.
Exkurs: ADHS bei Erwachsenen
Früher und teilweise auch heute noch wird davon ausgegangen, dass AD(H)S sich auswächst und die Probleme früher oder später ganz von allein verschwinden. Schließlich denken wir bei AD(H)S immer an die Kinder, die einfach nicht stillsitzen können, schlecht zuhören und/oder dauerhaft abgelenkt sind.
Einzig richtig ist, dass die Symptomatik sich entwickelt und mit dem Großwerden verändert. Das ständige Zappeln und überaktive Verhalten verringert sich ungefähr ab der Pubertät und dennoch bleibt eine starke innere Unruhe bestehen. Und die Fähigkeit, sich auf etwas zu konzentrieren, bleibt schlecht ausgeprägt, doch erwachsene Disziplin und hilfreiche Bewältigungsstrategien unterstützen Erfolge im Alltag.
Die vielen Gesichter von ADHS
Betroffene Erwachsene haben häufig mit folgenden Problemen zu kämpfen:- Lustlosigkeit
- Desorganisation
- Prokrastination
- Konzentrationsschwierigkeiten
- Sprunghaftigkeit, mangelnder Fokus
- Bewegungsunruhe
- Zwanghaftigkeit
- Extreme Emotionalität
Wie kann eine formelle Diagnose helfen?
Mit ADHS zu leben, ist bereits als Kind eine große Herausforderung, macht aber auch das Erwachsenenleben nicht einfacher. Nicht nur persönliche Beziehungen und das Berufsleben können unter Neurodiversität leiden, häufig sind Gefühle wie Scham und Schuld ein weiterer Trigger für kompensierendes Verhalten - von Wutausbrüchen über Vermeidung bis hin zu erhöhtem Suchtrisiko bzw. Risikoverhalten allgemein.
Die Aufklärung des persönlichen und beruflichen Umfelds sowie eine gesunde Selbstfürsorge können helfen, den Alltag unbeschwerter zu bestreiten.